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Wichtige Vorläufer-Fähigkeiten für das Lesen lernen und wie Du sie förderst – für leichteres Lesen lernen
Im Zuge der Reihe “Mach Dein Kind stark für die Schule” (hier ist der erste Artikel: Mach Dein Kind stark für die Schule – welche Fähigkeiten ihm helfen können und wie Du sie förderst) kommen wir nun zu Vorläufer-Fähigkeiten für das Lesen lernen. Eine Vorläufer-Fähigkeit ist eine Fähigkeit, die Grundlagen bildet, z.B. für das Lesen. Kinder, die diese Fähigkeiten früher meistern, haben es beim Lesen lernen leichter.
Dieser Artikel ist also vor allem spannend für Eltern mit Kleinkindern, Kindergartenkindern und Vorschulkindern, aber auch mit Kindern in der ersten Klasse, um ihnen das Lesen lernen zu erleichtern. Auch mit Kleinkindern kann man schon “in die richtige Richtung” üben, indem man z.B. Bücher mit Reimen vorliest und die Kinder die Reime ergänzen lässt, sobald sie es können. Die anderen Übungen lassen sich teilweise auch abändern, so dass sie mit kleineren Kindern schon gemacht werden können.
Leider zeigt sich auch, dass Kinder, die z.B. schlechter bei der Vorläufer-Fähigkeit “phonologische Bewusstheit” (siehe unten) abschneiden, häufiger von ihren Erzieherinnen als hyperaktiver eingeschätzt werden und auch eher Probleme mit Gleichaltrigen und emotionale Probleme zu haben scheinen (*). Allerdings kann man daraus nicht schließen, dass sich eine schlechter entwickelte Vorläufer-Fähigkeit zwangsläufig so auswirkt. Es könnte z.B. auch eine Ursache geben, die sich sowohl auf die Vorläufer-Fähigkeit als auch auf die Gefühle und Beziehungen zu anderen und die Hyperaktivität auswirkt (z.B. Veränderungen in der neuronalen Verarbeitung).
Die phonologische Bewusstheit
Die wichtigste Vorläufer-Fähigkeit für das Lesen lernen ist die sogenannte phonologische Bewusstheit. Bei dieser Fähigkeit geht es im Grunde darum, Worte bewusst in ihre Bestandteile zerlegen zu können. Typische Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit sind:
- erkennen, mit welchem Laut ein Wort beginnt oder endet
- möglichst viele Worte suchen mit einem vorgegebenen Anfangslaut
- Worte in Silben unterteilen (Silben klatschen)
- Reime finden
- erkennen, ob sich etwas reimt oder nicht
- Worte langsam Laut für Laut sprechen (zerlegen, wie Robotersprache)
- aus langsam nacheinander gesprochenen Lauten ein Wort zusammen setzen
Kinder, die solche Aufgaben lösen können, müssen also verstanden haben, dass Worte aus einzelnen Lauten bestehen, dass man Worte in Laute auftrennen kann und dass sich Laute zu Worten zusammenziehen lassen. Diese Fähigkeit benötigen die Kinder dann, wenn sie am Anfang M – A – M – A lesen und dann verstehen müssen, dass das zusammengezogen Mama heißt.
Um ein so lang gezogenes, aus einzelnen Buchstaben erlesenes Wort zusammensetzen zu können, müssen die Laute irgendwo im Gedächtnis repräsentiert werden. Hier kommt eine weitere Vorläufer-Fähigkeit fürs Lesen lernen ins Spiel: das phonologische Arbeitsgedächtnis.
Das (phonologische) Arbeitsgedächtnis
Das Arbeitsgedächtnis ist eine Art Kurzzeitspeicher, der es uns ermöglicht, etwas kurzzeitig “online” zu halten und auch mit dem Inhalt zu arbeiten. Diesen Speicher benötigen wir z.B., um kurz eine Telefonnummer innerlich zu wiederholen, bis wir sie ins Telefon getippt haben. Aber auch, um Zahlen kurzzeitig abzuspeichern und damit zu arbeiten während wir eine Rechenaufgabe lösen.
Beim Lesen lernen benötigen unsere Kinder das Arbeitsgedächtnis dazu, sich die einzeln erlesenen Laute und Silben so lange merken zu können, bis sie es schaffen, das gesamte Wort daraus zu bilden. Mit dem “phonologischen” Arbeitsgedächtnis ist die sogenannte “phonologische Schleife” aus dem einflussreichen Gedächtnismodell von Baddeley gemeint (siehe **). In dieser phonologischen Schleife sind Informationen als Laute gespeichert. So wie im eben beschriebenen Fall, wenn man sich eine Telefonnummer im Kopf vorsagt. Dieser Kurzzeitspeicher ist sehr begrenzt in seiner Kapazität.
Lassen sich Vorläufer-Fähigkeiten trainieren?
Ja!
Die gute Nachricht ist, dass sich die Vorläufer-Fähigkeiten für das Lesen lernen üben lassen. Bei der phonologischen Bewusstheit gibt es viele Nachweise für eine erfolgreiche Förderung und die Trainingseffekte wirken sich in vielen Studien auch tatsächlich positiv auf das spätere Lesen lernen aus.
Die Auswirkungen eines Arbeitsgedächtnis-Trainings sind komplexer. Für diesem Bereich gab es jahrelang eine Welle an Studien, die sogar Auswirkungen eines Arbeitsgedächtnis-Trainings auf viele andere Fähigkeiten wie z.B. den Schulerfolg fanden. Leider zeigten in den letzten Jahren immer mehr Studien, dass die positiven Auswirkungen oft nicht langfristig anhielten.
Wichtig ist, dass Du im Gespräch mit Kindern, die noch nicht lesen können (oder es gerade lernen) die Buchstaben als Laute aussprichst, so wie sie sich im gelesenen Wort anhören. Also das “B” als “B” (ohne den Mund weiter zum “E” zu öffnen) und nicht als “Be”. Sonst erschwerst Du Deinem Kind das Lesen und Schreiben lernen. Weil es dann z.B. “DU” als “De”-“U” liest und so keinen Sinn ausmachen kann im Gelesenen. Und beim Schreiben dann sowas rauskommt wie “SN” für “Es” und “En”, wenn das Kind eigentlich “Essen” schreiben möchte.
Keine Sorge, die “richtigen” Namen der Buchstaben wird Dein Kind problemlos später lernen. Aber indem Du ihm gegenüber erstmal nur die Laute nennst, ermöglichst Du ihm die eindeutige Zuordnung der Buchstaben zu dem Laut, der ihm das Lesen lernen erleichtert. In unserer Sprache ist das Lesen lernen schon schwierig genug, da z.B. das CH oder das Y je nach Wort unterschiedliche Laute annehmen können (Kirche, Bach oder Yasmin, Party). Da hilft es, wenn sich das Kind immerhin für die anderen Buchstaben zunächst nur eine einzige Laut-Zuordnung merken muss. Die Schnelligkeit der Zuordnung vom Buchstaben zum Laut wirkt sich nämlich auch auf die Leseleistung aus. Und natürlich kann das Kind schneller sein, wenn es nur eine einzige gut gelernte Verbindung zum Abrufen gibt, als wenn es ständig zwei Verbindungen zu möglichen Lauten (“B” und “Be”) abruft, die sich gegenseitig wiederum stören.
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So trainierst Du die phonologische Bewusstheit
Klassische Tipps zum Training der phonologischen Bewusstheit sind:
- Silben klatschen
- Worte suchen, die sich reimen
- Anfangslaute nennen (oder Endlaute)
- Worte in Silben zerlegen oder Worte einzeln nach Silben getrennt sagen und vom Kind zusammensetzten lassen
Eine ganz wunderbare Sammlung mit vielen Übungen zu wichtigen Vorläufer-Fähigkeiten des Lesens und besonders zur phonologischen Bewusstheit hat Britta Weinbrandt hier gesammelt: Übungssammlung zur Förderung der phonologischen Bewusstheit.
Falls Dir manche der hier oder in der Sammlung vorgeschlagenen Übungen zu “künstlich” vorkommen, dann wandele sie ab, so dass sie zu euch passen. Überlegt euch z.B. zusammen, wie man sie lustig gestalten kann. Oder verändere sie so, dass Dein Kind einen Bezug dazu findet (an seine Hobbies anknüpfen?).
Mit unserer Mittleren zusammen hab ich letztens zufällig aus dem Rumalbern heraus das “Quatsch-Beleidigungen-suchen” erfunden. Da sagte ich sowas wie: “so ein Graus, Du bist ne alte…” und sie ergänzte “Maus!”. Oder ich sage: “ich fall gleich in den Schlaf, Du bist echt ein…” (Schaf). (Weitere: Locke/Socke; fein/Schwein; Giraffe/Affe; Herd/Pferd; Ruh/Kuh). Damit trainierst Du Deine Wortflüssigkeit und Flexibilität und Dein Kind übt reimen und erdenkt sich dann vielleicht auch lustige “Beleidigungen”. Unsere Mittlere hat sich darüber schlapp gelacht und selbst noch mehr und immer verrücktere “Beleidigungen” erfunden.
Kleiner Tipp: ich hab mir jeweils ein Tier/Ding überlegt, das das “Zielwort” war. Dann ein Wort gesucht, das sich darauf reimt und am Ende versucht, einen Satz mit diesem passenden Reimwort so hinzubekommen, dass am Ende nur das Zielwort fehlte, das dann ergänzt werden konnte.
Eva hat unten in den Kommentaren geschrieben, dass sie solch ein Reimspiel mit ihren Jungs mit Zahlen gespielt hat. “Eins und zwei – du bist ein faules Ei, drei und vier – du bist ein Trampeltier, fünf und sechs – du bist verhext…” haben sie gedichtet und dann bei 10 angekommen nochmal rückwärts für die ungeraden Zahlen. Das ist eine wirklich gute Idee, die aktuellen Interessen des Kindes aufzugreifen und daraus dann ein Reim-Spiel zu erfinden.
So trainierst Du das Arbeitsgedächtnis speziell fürs Lesen lernen
- Phantasie-Worte oder -Sätze sagen, die genau so vom Kind nachgesprochen werden (dafür sprichst Du danach auch seine Wort-Erfindungen nach).
- Nach einem langen zusammengesetzten Wort suchen (Schulranzen-Anhänger-Band…), das aus mehreren Einzelworten besteht und es nachsprechen lassen. Ihr könnt dabei auch ein bestimmtes Thema (Schule, Kindergarten, Spielplatz…) vorgeben und dazu dann zusammengesetzte Worte bilden. – Und wer weiß die Worte oder zumindest das längste Wort abends noch und kann sie beim Abendessen nochmal sagen? Da sind wir dann aber schon beim Langzeitgedächtnis.
- Zahlenfolgen oder Buchstabenfolgen wiederholen (z.B. erst “5, 9, 2”, dann eine Zahl mehr usw. bis die maximale Zahl erreicht ist, die nachgesprochen werden kann. Mit etwas Training verschiebt sich die Grenze nach oben. Bei Kindern, die das schon gut und mit mehreren Zahlen können, wird weiteres Training voraussichtlich eher weniger bewirken.
- Eine Stufe schwieriger: Zahlenfolgen rückwärts wiederholen (“5, 9, 2” = “2, 9, 5”). Das geht nur mit weniger Zahlen als vorwärts und klappt noch nicht bei kleineren Kindern.
- Worte beim Aussprechen lang ziehen, indem die einzelnen Laute getrennt voneinander gesprochen werden. Kann das Kind das Wort als Ganzes benennen? (H – U – T). Hierbei kann man auch den Abstand zwischen den Lauten immer länger machen, um das Kind zu fordern. Das fördert gleichzeitig auch die phonologische Bewusstheit.
- Bei Kindern, die schon lesen können: Worte rückwärts sprechen (ohne sie geschrieben vor sich zu sehen).
Zusatztipp: Singen!
Christine hat im Kommentar hier unten einen weiteren Aspekt genannt: das Singen!
Ich zitiere sie hier, da ich ihren Kommentar als sehr hilfreich erachte: “Die Liedtexte enthalten auch immer Reime, außerdem werden die Silben deutlich von einander getrennt (Al- le mei-ne Ent-chen…) und beim Singen werden auch die Vokale in die Länge gezogen, so dass Kinder sie besser heraushören und differenzieren können.
Klatscht, patscht oder stampft man im Takt dazu, trainieren die Kinder ihr Grundschlagempfinden, das auch mit der Lesefähigkeit zusammenhängt. Es gibt eine Studie bei der festgestellt wurde, dass Kinder die Probleme mit dem Lesen haben auch keinen regelmäßigen Grundschlag klatschen konnten.”
Nun wünsche ich euch viel Spaß beim Trainieren der Vorläufer-Fähigkeiten fürs Lesen und dann einen guten Einstieg mit Freude ins Lesen lernen!
Alles Liebe!
Daniela
Literaturangaben
* Fröhlich, L.P., Koglin, U., & Petermann, U. (2010). Zusammenhang zwischen phonologischer Bewusstheit und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern im Vorschulalter. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 38 (4), 283-290.
** Baddeley, A.D., & Hitch, G.J. (1974). Working memory. In G.A. Bower (Hrsg.), Recent Advances in Learning and Motivation (Vol. 8, pp. 47–89). New York: Academic Press.
Liebe Daniela
Ich bin per Zufall (pinterrest) auf deine Seite gestossen.
Als Heilpädagoge bin ich von deinen fundierten Artikeln begeistert
Auch der Name deiner Homepage gefällt mir sehr!
Gerne würde ich deinen Newsletter bekommen
Liebs Grüessli
Urs
Lieber Urs,
vielen lieben Dank, das freut mich sehr, dass dir meine Seite gefällt!
Ich freue mich über jeden Newsletter-Abonnenten.
Alles Liebe!
Daniela
Spannende Perspektive und fundierte Ausarbeitung. Danke!
Gerne!
Vielen Dank für das Lob! 🙂
Ich hatte mit meinen zwei Söhnen ein ganz ähnliches Reim-Beleidigungsspiel. Allerdings mit Zahlen, die beiden waren mehr von Zahlen begeistert. Eins und zwei – du bist ein faules Ei, drei und vier – du bist ein Trampeltier, fünf und sechs – du bist verhext… von eins bis zehn (und dann rückwärts für die ungeraden Zahlen) ging das gut. Das hieß dann “die fiesen Zahlen” oder “die frechen Zahlen”
Hallo Eva! 🙂
Das ist ja eine tolle Idee, vielen lieben Dank fürs Teilen! Da werden gleich auch noch mathematische Fähigkeiten mit dazu geholt, vor allem, wenn es ums Zählen rückwärts geht! Ich hab die Anregung oben mit eingefügt, damit sie nicht unter geht!
Alles Liebe für euch!
Daniela
Hallo, toller Artikel. Als Musikgarten-Kursleiterin habe ich noch eine ganz einfache Anregung zu diesem Thema: Singen! Die Liedtexte enthalten auch immer Reime, außerdem werden die Silben deutlich von einander getrennt (Al- le mei-ne Ent-chen…) und beim Singen werden auch die Vokale in die Länge gezogen, so dass Kinder sie besser heraushören und differenzieren können.
Klatscht, patscht oder stampft man im Takt dazu, trainieren die Kinder ihr Grundschlagempfinden, das auch mit der Lesefähigkeit zusammenhängt. Es gibt eine Studie bei der festgestellt wurde, dass Kinder die Probleme mit dem Lesen haben auch keinen regelmäßigen Grundschlag klatschen konnten.
Singen hat so viele tolle “Nebenwirkungen”, das wird leider viel zu wenig beachtet und viele Eltern trauen sich auch gar nicht mehr zu singen.
Liebe Grüße, Christine
Liebe Christine!
Was für ein wunderbarer und hilfreicher Kommentar! Vielen lieben Dank dafür!
Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich diesen Aspekt noch mit dazu nehme in meinen Artikel?
Das würde ihn wirklich aufwerten, denn an Musik hatte ich bisher noch nicht gedacht in diesem Zusammenhang.
Wäre es möglich mir den Titel der Studie zu schicken? Die fände ich sehr spannend!
Alles Liebe!
Daniela